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Das Gefahrenabwehrrecht als polizeiliche Wunderwaffe

gefaehrlich.noblogs.org
Einleitung

Was ist gefährlich, was bedeutet Gefahr und was ist eine drohende Gefahr? Man könnte meinen, die Wortklauberei über die Begrifflichkeiten und juristischen Spitzfindigkeiten bezüglich Gefährder*in, „drohende Gefahr“ oder Gefahrenabwehrrecht sollte widerständige Bewegungen nicht weiter interessieren. Dem ist mit nichten so. Ob bürgerliche Anti-Überwachungs-Initiativen, gesellschaftlich Ausgestoßene, Knackis oder radikale Bewegungen – die Dystopie eines Orwells1 klopft nicht mehr an die Tür – wir sind es, die den Blick hinter die Tür werfen sollten.

  • 1Der Roman „1984“ von George Orwell beschreibt einen totalitären Überwachungsstaat.

Gefahrenabwehr des LKA am Beispiel Berlin

In Berlin gibt es viele Hausdurchsuchungen des polizeilichen Staatsschutzes, häufig tauchen zivile „szenekundigen“ Beamt*innen vor vermeintlichen Szenelokalitäten auf. Diese Häufungen entsprechen einem Kalkül, das schon seit geraumer Zeit verfolgt wird: Prävention und Gefahrenabwehr. Razzien gegen Hausprojekte, vermeintliche Politkombos oder größere Ermittlungsverfahren – teilweise mit Vereini­gungskonstruktionen – sind Instrumente des Staatsschutzes, um unliebsame Aktivitäten zu unterbinden und die eigene Arbeit zu legitimieren.

Viele erinnern sich an die großen „Paragraph 129 StGB-Verfahren“, das Schema war fast immer gleich: Erst wurde mit oft dünnen Behauptungen eine Art Vereinigung konstruiert, um dann ein Ermittlungsverfahren wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ einzuleiten und auf dieser Grundlage Gerichtsbeschlüsse für allerlei „Operative Mittel“ durchzusetzen. Von Observationen über Telekommunikationsüberwachungen bis zu Hausdurchsuchungen wurde dann alles sukzessive umgesetzt. Eine Bestrafung wurde im seltensten Fall erreicht. Priorisiertes Ziel war die Einschüchterung von Betroffenen, des Umfelds und der Szene.

In der Zwischenzeit hat ein Paradigmenwechsel in den Rechtsgrundlagen stattgefunden. Während mit dem Paragraphen 129 StGB eine strafprozessuale Verfolgung stattfindet, deren Maßnahmen vom Gericht „kontrolliert“ und beschlossen werden, arbeitet der Staatsschutz nun oft nach dem Gefahrenabwehrrecht, also präventiv. Grundlage dafür ist das Polizeirecht, in Berlin "Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz" (ASOG) genannt. Maßnahmen nach der Strafprozessordnung wie Observationen, Überwachungen von Telefonen, Fahrzeugen oder Wohnungen müssen aus einem Gesetzesverstoß resultieren und die Ermittler Verdächtige finden oder konstruieren. Bei der Prävention ist das nicht mehr nötig: Die Person ist ja schon gefunden. Ihr muss nur noch eine gewisse Gefährlichkeit unterstellt werden, was sich einfacher konstruieren lässt, um dann die gleichen Maßnahmen anwenden zu können.

So regelt das ASOG beispielsweise die Möglichkeit, eine Person für ein Jahr zur polizeilichen Beobachtung auszuschreiben. Dies hat zur Folge: Eintragung der Ausschreibung in polizeiliche Systeme – das heißt jedes Mal, wenn die Person kontrolliert wird, ergeht eine Meldung über den Umstand der Kontrolle an das Landeskriminalamt (LKA)1 ; die Erfassung aller Verkehrsmittel der Person – wenn ein der Person zugeschriebenes, auch nicht auf sie zugelassenes, Fahrzeug kontrolliert wird, ergeht eine Meldung; die Möglichkeit zur längerfristigen Observation auch mit technischen Mitteln.

Auch wenn „szenekundige“ Beamt*innen an der Person vorbeifahren, ergeht ein „Tätigkeitsbericht“ an das LKA. Dabei werden auch die Kontaktpersonen der*s Ausgeschriebene*n erfasst. Um eine „Erlaubnis“ für diese Maßnahmen zu bekommen, bedarf es einer Gefahrenanalyse durch eine*n Mitarbeiter*in der zuständigen Fachdienststelle – in Berlin das LKA 5. Dazu reichen meist ein paar Seiten darüber wer, wie, warum auf welcher Demo rumspringt und die Unterschrift der Polizeipräsidentin. Ein Jahr später kann die Maßnahme einfach verlängert werden. Noch einfacher sind konkrete Maßnahmen wie längerfristige Observationen umsetzbar. Hier schreibt die zuständige Dienststelle einen kleinen Text und die Unterschrift kommt vom direkten Vorgesetzten beim LKA. Fertig. Auch Meldeauflagen oder gar präventiver Gewahrsam für mehrere Wochen können auf Grundlage einer einfachen Gefahreneinschätzung eines Beamten angeordnet werden. DNA von diesen Personen werden in die "DNA Analyse Datenbank" (DAD) aufgenommen.

Grundlage ist auch hier eine vom Staatsschutz gefertigte Gefährdungs­analyse. Ein Tatnachweis für begangene Straftaten ist nicht nötig, nicht einmal einschlägige Urteile oder Ähnliches. Es reicht der Eindruck „Du bist irgendwie gefährlich“. Dazu kommen die im Gefahrenabwehrrecht geregelten Einstufungen als „Gefährder“ oder „Relevante Person“. Nach welchen Kriterien eingestuft wird, ist in einem Papier geregelt, das als Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch (VS-NfD) – klassifiziert ist. Der bürokratische Name dieses Geheimpapiers: „Standardmaßnahmen bei Gefährdern und Relevanten Personen, Einstufung im Rahmen der Gremienbeschlüsse der AG Kripo, zuletzt geändert im Umlaufbeschlussverfahren mit Stand 2. Juli 2013".

Direkte Folgen aus der Einstufung ergeben sich bisher schon für Menschen ohne deutschen Pass. Das Staatsschutzprinzip ist hierbei der Umkehrschluss: Eingestuft wird, wer als gefährlich gilt, gefährlich ist, wer eingestuft ist. Als Wolfgang Schäuble 2008 vom Abschießen entführter Flugzeuge und sogar der Eliminierung vermeintlicher „Terroristen“ fabulierte, setzte dies die Diskurslinie ein gutes Stück nach oben. Während die Opposition gegen derlei Vorschläge Kritik äußerte, konnten Gesetzesentwürfe zu Fußfesseln und Präventionsmaßnahmen wie die Überwachung und Internierung eingestufter Personen als Kompromiss durchgewunken werden. Das ist heute Realität und Praxis, nicht nur gegen vermeintliche Islamist*innen oder Terrorist*innen, sondern auch gegen politisch Widerständige und ideologisch Unliebsame.

Schuld durch Kontakt

Polizeiliche Vorgehensweisen sind angelehnt an die Agenda der politischen Entscheidungsträger. Diese nimmt Einfluss auf die Ermittlungen bzw. die jeweiligen Ermittlungskonstruktionen. Hat der Staats­schutz einen „Vermerk“ angelegt, demzufolge kontrollierte Personen Linksextremisten seien, tauchen diese fortan auch in Akten zu anderen Verfahren auf. Zitat aus einer Ermittlungsakte: „bei den genannten Personen der beiden zitierten Kontrollen handelt es sich um Angehörige der linksextremistischen Szene, die alle Repressionsorgane, Personen und Einrichtungen, die diese unterstützen oder denen nahestehen als klar definierte Angriffsziele sehen“ und weiter wird spekuliert: „Eine Verurteilung führt hier nicht zu einer Entwicklung von Unrechtsbewusstsein, sondern unter Umständen zu einer stärkeren Radikalisierung“. Man beachte, diese Analyse bezieht sich auf zwei allgemeine Kontrollen. Die Gefährlichkeit ergibt sich hier aus der Kontaktschuld derer, die sich beispielsweise in Parks mit Menschen treffen, die „spektakulären“ Wohnadressen (etwa dem Hausprojekt Rigaer 94) zugeordnet werden. So schafft sich das LKA Personen, die fortan als „Mittäter“ und „Kontaktpersonen“ bezeichnet werden, mit einem Bezug zu dem Reizwort „Rigaer 94“. Zitat aus der Polizeianalyse: „Eine Zugehörigkeit zum besetzten Hausprojekt Rigaer Str. 94 ist aus hiesiger Bewertung eine qualitative Aussage zur dort wohnhaften Person.” Selbst nur versuchte Anrufe zählen als Indiz für einen Beschuldigtenkontakt oder Telefonate mit einer Person, die zuvor wiederum als Kontaktperson des Beschuldigten eingestuft wurde. Das Landgericht Berlin hat dies als Grundlage für Durchsuchungen bereits als rechtswidrig deklariert. Scharf kritisiert wird im Urteil insbesondere die Kontaktschuldmethode. Das Konstrukt „Schuld durch Kontakt“ bleibt dennoch Arbeitsbaustein des Berliner LKA, das private Bekanntschaften sogar zu möglichen Mittäter*innen erklärt. Das Kalkül dahinter: Aktivist*innen zu isolieren und Solidarität zu brechen. Nicht immer laufen diese Versuche ins Leere. Die andauernde Anwendung des Gefahrenabwehrrechts muss als Verselbstständigung der Behörden wahrgenommen werden – ohne jede Prüfung durch juristische Institutionen.

Politiker*innen und Behörden suchen sich gerne Gegner*innen, die als Sinnbild für ihre Propaganda herhalten können. Eine gewisse Ansprechbarkeit bzw. Sichtbarkeit kann das begünstigen, ist aber auch eine Basis, auf der unsere Ideen und Vorschläge weiter wachsen können. Dem personalisierten, permanen­ten Angriff kann nur eine permanente Solidarität entgegengesetzt werden. Wir möchten mit diesem Beitrag einen Anstoß hierfür geben.

Der Text wurde gekürzt und ist auf der Website https://gefaehrlich.noblogs.org in der Originallänge zu lesen.

  • 1Zuvor wurde dieses Prinzip als „Sondersperre“ umgesetzt (Hinweis „Sofortanruf LKA 5“) in den jeweiligen Personendatensätzen im Informationssystem Verbrechensbekämpfung (ISVB), später POLIKS. Personen, die zur polizeilichen Beobachtung / Meldefahndung ausgeschrieben werden, werden bspw. in der Datei „Gewalttäter Links“ zu dem Delikt „gefährliche Körperverletzung“ geführt, mit dem Zusatz: „Fiktives Delikt, da Ausschreibung sonst technisch nicht möglich“. Wer als „Gefährder“ in den polizeilichen Informationssystemen gespeichert ist oder als „Relevante Person – Kontaktperson zu einem Gefährder“ gilt, hat z.B. den Merker „BRPTGEFLINKS“, was soviel bedeutet wie: „Berlin Potentiell Gefährder Links“.