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Anatomie des Faschismus

Fabian Kunow
Einleitung

Der elfte Teil der Reihe »Faschismustheorie. Erklärungen des NS« wendet sich Robert O. Paxton zu. Vor knapp zehn Jahren erschien das Essay »Anatomy of Fascism«, mit dem Paxton ein mehrstufiges Erklärungsmodell erschuf, um der Vielschichtigkeit dessen, was den Namen Faschismus trägt, gerecht zu werden. Für Paxton ist Faschismus keine 1945 abgeschlossene Epoche, sondern eine aktuelle Gefahr, der es entgegenzutreten gilt. Er trat 1998 u.a. als Experte des Vichy-Regimes als Zeuge gegen Maurice Papon1 auf. Er beschäftigt sich mit Westeuropa nach 1945 sowie Osteuropa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und mit möglichen Faschismen außerhalb Europas. 

  • 1Maurice Papon war ein französischer Politiker, der mit den Nazis während des 2. Welt­kriegs kollaborierte. Wegen von ihm zu verantwortenden Kriegs­verbrechen wurde er 1998 zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Er saß davon 3 Jahre ab.

Paxton bezieht immer auch die gesellschaftliche Situation und spezifische nationale Kontexte mit ein, in denen sich der jeweilige Faschismus befand. Dabei erwähnt er einfache, logische, aber oft vernachlässigte Fakten und historische Gegebenheiten. Zum Beispiel: Faschismus ist eine Antwort auf liberale Demokratiemodelle, er setzt daher erst eine bürgerliche Demokratie voraus. Die Massendemokratie machte erst die Massengegenbewegung Faschismus möglich. Deshalb sieht er die ersten faschistischen Gedanken und Bewegungen in den USA ab 1860 als Reaktion auf Fehlleistungen der amerikanischen Demokratie.1 Paxtons Modell gliedert sich in fünf Stufen und macht deutlich, dass Faschismus zugleich als Ideologie und Praxis und deshalb als nicht statisch dargestellt werden muss. In jeder Stufe ändern sich nicht nur das Erscheinungsbild des Faschismus, sondern auch die jeweiligen Träger. Sind diese zuerst einige sektiererische Intellektuelle, sind es später die Mittelschichten und beim Eintritt in die Machtausübung die jeweiligen nationalen Eliten, welche sich aus »alten Kämpfern«, den traditionellen Eliten und Karrieristen zusammensetzen. Paxton beschreibt hier Faschismus als einen Bus, in den immer wieder Menschen ein- und aussteigen.

Das Entstehen einer faschistischen Bewegung

In Europa entstanden faschistische Bewegungen als Folge des 1. Weltkriegs. Sie fanden günstige kulturelle, soziale und politische Bedingungen. Ohne »eine reife und expandierende sozialistische Linke«2 ist nach Paxton Faschismus unvorstellbar. Er stelle eine Angstreaktion der Mittelschichten und Eliten dar, aber gleichzeitig auch eine Enttäuschung bei Personen aus der Linken. Wo die faschistische Ideologie bei Intellektuellen auf Resonanz stieß, geschah dies vor allem in den frühen Stadien3 . Eine Ausbreitung faschistischer Ideen kann als erste Stufe des Modells beschrieben werden.

Wurzeln schlagen

In der zweiten Stufe stellt sich der Faschismus breiter auf. Das heißt, es werden Parteien gegründet, die über Klassen- und Konfessionsgrenzen hinweg, Aktivisten und Wähler rekrutieren. Die NSDAP gilt nicht zufällig als erste Volkspartei der Geschichte. Ihr »Antikapitalismus« war sehr selektiv. Dort, wo der Faschismus erfolgreich war, d.h. der Übergang vom ersten in das zweite Stadium gelang, bot sich als Gegnerin der Sozialismus an. Gleichzeitig mussten aber die staatlichen Institutionen der liberalen Demokratie als zu schwach gelten, um die sozialen Verhältnisse effektiv vor der Linken zu schützen.

Übernahme der Macht

In der »Übernahme der Macht« als dritte Stufe betrachtet Paxton die historische Situation bzw. die Motive der konservativen Komplizen, die die italienischen Faschisten und die deutschen Nazis an die Macht hievten. Eine »Machtergreifung« fand weder im Oktober 1922 beim »Marsch auf Rom« noch im Januar 1933 in Deutschland statt. Paxton verbannt dies in die Welt der Mythologie, welche eher Mussolini bzw. Hitler nutzte.

Was die Faschisten dem Establishment bieten konnten, waren eine Massenbasis, Gewalt gegen Linke, Ju­gend­­lichkeit und das Gefühl, die Unordentlichkeit der Verhältnisse über­winden zu können. Die konservativen Komplizen dachten, den »österreichischen Obergefreiten und den grünschnäbligen ex-sozialistischen Demagogen«4 aus dem Hintergrund lenken zu können.5

In anderen Ländern konnten konservativ-autokratische Regime bzw. ein funktionierender Rechtsstaat die jeweilige faschistische Bewegung durch Repression wieder in den Stand der Stufe zwei des Modells zurückschlagen, weil sie keine derartige Angst um ihre Macht und ihren Besitz hatten, dass sie das Bündnis mit den Faschisten suchten.

Als Mussolini und Hitler in Stufe drei des paxtonschen Modells in Koalitionsregierungen saßen, errichteten sie eine Diktatur, »indem sie ihr quasikonstitutionelles Amt in unbegrenzte persönliche Autorität umwandelten«.6 In anderen Ländern mit faschistischem »Juniorpartner eines autoritären Regimes«7 wie bspw. Rumä­nien, erwiesen sich diese Partnerschaften für die Faschisten als desaströs. In den erfolgreichen faschistischen Ländern Italien und Deutsch­land wurde in dieser Phase die parteiinterne Konkurrenz ausgeschaltet und eine »zweite Revolution« von vornherein unterbunden.

Anders als oft geglaubt exportierten die siegreichen Faschismen ihr Gesellschaftsmodell auch nicht militärisch in andere Länder. Als Nationalisten und Pragmatiker schauten sie eher, was ihnen das Regieren in den besetzten Ländern am einfachsten ermöglichte.8  In Stufe drei ist der »Weg der Faschisten zur Macht als Prozess zu betrachten: Allianzen werden geschmiedet, Entscheidungen getroffen, Alternativen ausgeschlossen.«9 Weder Mussolini noch Hitler waren unvermeidlich, sondern nur eine Option.

An der Macht

Stufe vier des Faschismusmodells von Paxton trägt den Titel »An der Macht«. Er führt zahlreiche Faschismusforscher an, die faschistische Regime als nicht monolithisch und somit als nicht statisch beschreiben. Es werden verschiedene Machtzentren (Partei, Militär, alte Verwaltung, ökonomische Eliten) benannt, die zum Teil in Konkurrenz zueinander standen. Dadurch konnte sich erst die alles zusammenhaltende »Herrschaft des Führers« entfalten. Neben dem Machtkampf der verschiedenen Institutionen errichteten die deutschen und italienischen Faschisten erfolgreiche Parallelorganisationen, die den Bereich der Freizeitgestaltung übernahmen und so die gesamte Gesellschaft bis auf ein paar »Inseln der Abgetrenntheit«10 durchzogen. Zum Problem für die faschistischen Parteien wurde, dass nun haufenweise Karrieristen und Opportunisten in die eigenen Reihen strömten. Die Konservativen verloren Stück für Stück ihre alte Macht an die neuen Institutionen der Faschisten bzw. deren Personal. Ganz ersetzt wurde die alte Bürokratie aber nie. Trotzdem soll nach Paxton auf dieser Stufe seines Modells nicht nur auf das Handeln des Führers und seiner Partei fokussiert werden, sondern die Spannungen innerhalb des faschistischen Regimes. Gleichzeitig gilt es festzuhalten, dass die faschistischen Regime auf breite Mehrheiten in der Bevölkerung zählen konnten. Die »faschistische Revolution« war lediglich eine kulturelle, die die Nation in den mentalen Kriegszustand heben sollte, denn Eigentum und soziale Hierarchien wurden nie grundsätzlich angetastet.

Radikalisierung oder Entropie

Die fünfte Stufe trägt die Bezeichnung »Radikalisierung oder Entropie11 «. »Faschistische Regime konnten es sich an der Macht nicht einfach bequem machen«12 , sie hatten zu viel versprochen, um ganz unterschiedliche Interessen zu bedienen. Deshalb mussten sie den Eindruck erwecken, eine vorwärts stürmende Kraft zu sein. Es blieben zwei Auswege: Die Entwicklung beruhigen und zu einer autoritären Diktatur (Spanien, Portugal) transformieren oder sich weiter zu radikalisieren, wie dies in Deutschland der Fall war. Hier konnten die Nazis ihre Ideen von radikaler Umgestaltung und rassistischen Phantasien voll ausleben. Die Herrschaft Mussolinis wiederum zeichnete sich durch eine Wellenbewegung von Normalisierung und Radikalisierung aus. Im Radikalisierungsstadium zeigt sich für Paxton der Faschismus in seiner klarsten Form, »der Freisetzung zerstörerischer Gewalt«13 .

Fazit

Kein Faschismustheoretiker hat wie Paxton versucht, verschiedene Theorien sowie die unterschiedlichen Formen, in denen uns Faschismus begegnet, in ein Gebäude zusammenzubringen. Es wird gesagt, Marx habe Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt. Damit ist gemeint, dass Gedanken nicht aus dem Nichts entstehen, sondern gesellschaftliche, also soziale und damit politische und ökonomische Voraussetzungen haben. Das kann auch über Paxton in Bezug auf die neuen Faschismustheorien gesagt werden. Sie untersuchen verschiedene Faschismen in der Bewegungsphase, in der sie noch keinen realpolitischen Einschränkungen unterlagen. Wegen der Einbeziehung des jeweils spezifischen sozialen und nationalen Kontextes, lohnt sich eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Paxtons Ansatz. 

  • 1Paxton (2007): S. 68
  • 2Paxton (2006): S. 70
  • 3Vgl. Paxton (2006): S. 65
  • 4Paxton (2006): S.154
  • 5Vgl. Paxton (2006): 151–154
  • 6Paxton (2006): S.157
  • 7Paxton (2006): S.164
  • 8Paxton (2006): S.167
  • 9Paxton (2006) S. 174
  • 10Paxton (2006): S. 181
  • 11Entropie kommt aus dem Griechischen und bedeutet Umkehr, Wendung oder Umwandlung – gemeint ist hier mit, dass sich Faschismen bzw. deren Bewegungen in »normale« autoritäre Diktaturen oder evtl. gar in bürgerlich verfasste Demokratien entwickeln können ohne einen totalen Zusammenbruch wie in Deutschland 1945 erlebt zu haben.
  • 12Paxton (2006): S. 218
  • 13Paxton (2006): S. 248