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„Dumme Hellersdorfer Nazi-Prolls“

Ein Debattenbeitrag von Rocky Meyer
Einleitung

Die Dämonisierung der Arbeiter_innenklasse und die Antifa.

Das Bild dürfte in jeder zweiten sorgfältig dekorierten Antifa-WG schon einmal an der Wand gehangen haben. Es zeigt den mittlerweile verstorbenen Harald Ewert, der mit Deutschlandtrikot bekleidet in vollgepisster Jogginghose seinen rechten Arm hebt. Aufgenommen während der rassistischen Ausschreitungen im Sommer 1992 in Rostock-Lichtenhagen, wurde das Motiv zum Symbol für den mörderischen Rassismus im gerade „vereinten“ Deutschland. Das Bild ging um die Welt und der Repräsentant des neuen deutschen Rassismus war gefunden.


Mehr als zwanzig Jahre später, im August 2013 in Berlin-Hellersdorf, waren es wieder organisierte Neonazis und Alltagsrassisten, die gegen Geflüchtete Stimmung machten. Und wieder war es eine Plattenbausiedlung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR − und wieder gab es ein symbolträchtiges Bild. Unter den Rassisten fiel ein junger Mann mit Glatze und Jogginghose auf, der den Geflüchteten und Unterstützer_innen ebenfalls seinen ausgestreckten rechten Arm präsentierte. Der Mann schien der gleiche Repräsentant für den wieder erstarkten neuen deutschen Rassismus der frühen 90er Jahre zu sein: Der hässliche Nazi-Proll.

Fragwürdiges Verständnis von Rassismus

Das Bild verbreitete sich schnell über soziale Netzwerke, wurde in zahlreichen Zeitungen abgebildet und war in mehreren TV-Nachrichten zu sehen. Auf Twitter und Facebook kursierte eine Collage, in der Harald Ewert und der Hitlergruß-Nazi aus Hellersdorf nebeneinander zu sehen waren. Die Message war unmissverständlich: Berlin-Hellersdorf ist ein zweites Rostock-Lichtenhagen. Daraus wurde nichts: Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich geändert, der Rassismus in Deutschland hat sich zum Teil gewandelt und die Kämpfe seitens der Geflüchteten sowie unterstützender antifaschistischer und antirassistischer Aktivist_innen finden in weiten Teilen der Bevölkerung größere Zustimmung als vor zwanzig Jahren. Das Establishment hat kein entsprechendes Interesse wie im Fall von Rostock-Lichtenhagen, als die rassistischen Ausschreitungen genutzt wurden, um für die faktische Abschaffung des Asylrechts Stimmung zu machen. Wie Jacob Reinhardt in der Jungle World (3/14) treffend festhielt, haben sich die Koordinaten des Rassismus geändert − was nicht bedeutet, dass Rassismus nicht mehr existiert: „Für die staatliche Seite besteht eben auch keine Notwendigkeit mehr, auf einen rassistischen Kurs zu setzen – zumindest nicht innerhalb der BRD. Denn die Gewalt wurde mit der Expansion der EU immer weiter an die Außengrenzen verschoben“, schreibt Reinhardt. Hellersdorf wurde auch deshalb zu keinem zweiten Lichtenhagen, weil sich die Stimmen innerhalb der antifaschistischen und antirassistischen Kräfte durchsetzen konnten, die erkannten, dass es nicht ohne die Hellersdorfer Bewoh­ner_innen geht.

Die beiden Fotos aber sollten vor allem auf die Gefahr des alltäglichen und militanten Rassismus aufmerksam machen, aufrütteln und mobilisieren. Ein genauerer Blick auf das vermittelte Bild hinter den Bildern bringt allerdings zum Vorschein, dass die Verweise auf den „Nazi-Proll“ die Reichweite und die Komplexität des Rassismus nicht fassen können.

Die Fokussierung auf den „Nazi-Proll“ als Repräsentanten des deutschen Rassismus bestätigt ein entpolitisiertes Verständnis von Rassismus. Denn hinter dem Bild steckt die Vorstellung, Rassismus sei auf die Plump- und Dummheit der Rassist_innen zurückzuführen. Diese Rassismusanalyse war schon Anfang der 1990er Jahre falsch und ist es auch heute noch. In den 1990er Jahren legitimierte eine solche Analyse etwa Ansätze der „akzeptierenden Jugendarbeit“, bei der Rassismus und rechtes Denken nicht selten bagatellisiert wurde. Rassismus ist nicht auf mangelnde Bildung zurückzuführen, er ist auch nicht Ausdruck rückwärtsgewandter Schlichtheit, vielmehr strukturiert Rassismus den Alltag, die Institutionen und den Arbeitsmarkt; Rassismus setzt Menschen in Beziehung zueinander, hierarchisiert sie und reguliert so den Zugang zu Ressourcen. Wer sich in erster Linie mit der vermeintlichen oder tatsächlichen Dummheit von Neonazis oder Alltagsrassisten beschäftigt, spielt vor allem einem Verständnis von Rassismus in die Karten, das letztlich von Vorurteilen und mangelnder Bildung ausgeht. Im Kern geht es beim Blick auf den „Nazi-Proll“ als typischen Rassisten kaum um die Geschichte, das Wissen, die Strukturen und die Wandlungen des Rassismus als ein die Gesellschaft strukturierendes Herrschaftsverhältnis.

Der „Nazi-Ork“ aus einer anderen Welt

Ein besonders anschauliches Beispiel für das Klischee des dummen Nazi-Prolls ist ein viel beachteter Beitrag des VICE-Magazins, der während der Auseinandersetzungen in Hellersdorf erschien und in dem sich ausführlich mit dem oben genannten Hitlergruß-Nazi befasst wurde (im VICE-Magazin wurde er als „Nazi-Ork“ bezeichnet). Dieser wird in Zusammenhang gebracht mit Leuten, die in Hellersdorf vermutet werden. Im Beitrag ist die Rede vom „dumpfesten Pöbel, der an einem Montagvormittag genügend Zeit und Muße hat, rechte Parolen zu skandieren, anstatt wie wahrscheinlich normalerweise den Tag mit Bier aus Plastikflaschen zu begrüßen“. Hier wird ein enger Zusammenhang zwischen der Klassenlage und einer rassistischen Einstellung hergestellt. Mittels klassistischer Stereotype gegen Erwerbslose zeigt das VICE-Magazin, in welcher Weise antirassistisch und antifaschistisch sie sind. Es ist ein Antirassismus, der fest auf dem Boden der Leistungsideologie steht und nebenbei ganz genaue Vorstellungen hat, wer zu Deutschland gehört und wer nicht. Am Schluss des Beitrags heißt es an die Adresse der Hellersdorfer Neonazis: „Bitte hört auf, euch so zu gebärden, als wärt ihr Deutschland, denn das seid ihr nicht. Ihr seid einfach ungebildet, mehr nicht“. Auch die BILD zeigte sich in den Tagen von Hellersdorf in ähnlicher Weise „antirassistisch“. Auf bild.de wurde über mehrere Tage hinweg vom „Nazi-Skandal in Berliner Plattenbau-Viertel“ berichtet − immer illustriert mit dem Hitlergruß-Nazi. Und auch in der Stuttgarter Zeitung war zu lesen: „In Hellersdorf bricht sich bei vielen eine finstere Mischung Bahn – sie besteht aus Ressentiments, Rassismus und Sozialneid. 1991 und 1992 führte diese Mischung in Hoyerswerda und in Rostock-Lichtenhagen zu Ausschreitungen“.

Es waren nicht antirassistische und antifaschistische Medien, sondern bürgerliche, die sich diesem fragwürdigen Verständnis von Rassismus annahmen und es kritisierten. Das RBB-Magazin „Kontraste“ ließ eine repräsentative Umfrage in Auftrag geben und fragte nach der Akzeptanz von Flüchtlingsheimen in der Nachbarschaft. Sortiert wurden die Werte auch nach dem Haushaltsnettoeinkommen. Von denen mit weniger als 1.500 EUR Haushaltsnettoeinkommen im Monat hätten 34% der Befragten ein Problem mit der Eröffnung eines Heimes. Bei denjenigen, die über mehr als 3.000 EUR im Monat verfügen, sind es 40%. Nach der Präsentation dieser Ergebnisse folgte in selbiger Sendung ein informativer Bericht über die rassistische Mobilisierung der Mittelklasse im hessischen Bad Soden. Ein sehr lesenswerter Kommentar zu dem Selbstbild derjenigen, die dem „Nazi-Ork“ die Dumm­heit um die Ohren schlagen wollten, erschien im Feuilleton der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Darin hieß es: „Die Rede vom ,Nazi-Ork‘ hilft, eigene Ängste zu binden. Vor einem ,Nazi-Ork‘ muss man keine Angst haben, denn er hat nichts mit einem selbst zu tun, der man angeekelt auf den Computer-Bildschirm starrt. Der ,Nazi-Ork‘ hat keine gesellschaftliche Entstehungsgeschichte. Er kommt aus einer anderen Welt. Der Hellersdorfer Nazi-Welt eben. Man selbst ist natürlich gebildet und deswegen kein Nazi. Zum Glück.“


Die Welt der „Unterschicht“

Diese andere Welt ist nicht nur die Welt Hellersdorfer Nazis, sie ist auch die Welt der „Hartz-IV-Nazis“, der „Nazi-Prolls“, sie ist die Welt der „Unterschicht“. Ungefähr seit zehn Jahren wird in der medialen Öffentlichkeit eine faule, unzivilisierte „Unterschicht“ präsentiert, die in erster Linie selbst schuld an ihrer sozialen Situation sei. Die lauthalse Hetze gegen eine vermeintliche „Unterschichtenkultur“ geht einher mit lustig und scherzhaft daherkommenden Darlegungen über „dumme Prolls“. Bürgerliche Soziolog_innen entdeckten bei der Suche nach dem Leben der Armen recht bald die angebliche Anfälligkeit der Armen für rechtes Denken. Der Soziologe Heinz Bude schrieb über die „Unterschicht“: „Sie verzehren die Grundlagen des Wohlfahrtsstaats, bilden eine unerreichbare Parallelwelt und fungieren als unberechenbarer Resonanzboden für populistische Bestrebungen.“

Die Rede von der „Unterschicht“, die wahlweise faul, unzivilisiert, peinlich oder eben dumm oder unberechenbar rassistisch ist, dient letztlich der Absicherung der bestehenden Klassenverhältnisse. Mit Rück­griff auf diese medial hergestellte Figur werden disziplinierende und kontrollierende Arbeitsmarktinstrumente („Hartz IV“) legitimiert, Menschen in ähnlicher sozialer Lage gegeneinander aufgebracht und die Leistungsideologie gestützt. Die strukturellen Ursachen von sozialer Ungleichheit rücken in den Hintergrund, im Vordergrund stehen Menschen, von denen man glaubt, sie hätten sich gegenwärtig oder in Vergangenheit nicht genügend angestrengt. Anders gesagt: Wer von der „Neuen Unterschicht“ spricht, braucht keine Worte mehr über den Kapitalismus zu verlieren.

Von antifaschistischer Seite war eine Kritik an Beiträgen wie im VICE-Magazin, der BILD oder der Stuttgarter Zeitung nicht zu vernehmen. Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass eine Kritik daran mit Selbstkritik verbunden werden müsste, da auch antifaschistische Zusammenhänge manches Mal am fragwürdigen Bild des dummen „Nazi-Prolls“ kräftig mitzeichnen und dadurch den seit Jahren präsenten Unterschichtsdiskurs zum Teil bedienen.

Antifaschistisches Anknüpfen an den Unterschichtsdiskurs

Formen des Klassismus bedienen auch Antifaschist_innen, wenn sie Harald Ewert oder den Hitlergruß-Nazi als zentralen Repräsentanten des deutschen Rassismus hervorheben. Falls überhaupt der Rassismus in Deutschland in einer einzigen Person repräsentiert werden soll, wären Anfang der 1990er Jahre nicht eher Manfred Kanther oder Helmut Kohl geeigneter gewesen? Oder gibt es angesichts von Büchern wie „Deutschland schafft sich ab“ oder aktuellen Debatten um die sogenannte „Armutsmigration“ nicht viel bessere Beispiele für Personen, die für den gegenwärtigen Rassismus in Deutschland stehen? Gewiss, es waren vor allem Antifaschist_innen und Antirassist_innen, die etwa Anfang der 1990er oder im Zuge der „Sarrazindebatte“ im Herbst 2010 auf die gesellschaftliche Mitte zeigten und die Interessen der Herrschenden benannten, doch diesem richtigen Ansatz, den gesellschaftlichen Kontext zu betonen, steht genannte Bildersprache entgegen. Warum trägt der hässliche Deutsche Jogginghose?

Die Beliebtheit von Bildern hässlicher Hitlergruß-Nazis lässt unter Umständen noch tiefer blicken: Nicht nur die Verbreitung des Bildes von Harald Ewert ist ein Beispiel für eine auch in Teilen der Antifa-Szene verankerte Ablehnung von „Prolls“. „Prollig“ ist eine gängige Bezeichnung für unangemessenes, ungehobeltes oder unkultiviertes Verhalten. Alle wissen, was gemeint ist, wenn von einem Antifa-Proll die Rede ist: Ein sexistischer Macker. Weitere Beispiele zu finden, dürfte nicht schwer fallen. Es verwundert daher leider auch nicht, dass vor einigen Jahren in Berlin ein Aufkleber kursierte, auf dem zu lesen war: „Gegen Nazis, Sexisten und Prolls“. Am Beispiel der britischen Gesellschaft hat Owen Jones in seinem Buch „Prolls“ aufgezeigt, dass der Begriff (im englischen „Chavs“) eine Metapher zur „Dämonisierung der Arbeiterklasse“ ist. Linke sind wohl nicht die Vorkämpfer der Dämonisierung der Arbeiter_innenklasse und damit eines Klassenkampfes von oben, dennoch sind auch Antifaschist_innen trotz ihrer politischen Einstellung nicht frei von verinnerlichten Klassismen.

Das Schimpfen auf die „Prolls“, den „Pöbel“ oder den „Mob“ innerhalb linker Kreise hängt zusammen mit einer Abkehr von der Arbeiter_innenklasse in Teilen der radikalen Linken − insbesondere in antifaschistischen Zusammenhängen. Der Bezug auf eine Arbeiter_innenklasse wird nicht selten mit Verweisen auf den NS als dogmatisch oder rückwärtsgewandt zurückgewiesen. Diese Abkehr von einer Arbeiter_innenklasse ist keineswegs exklusiv für „antideutsche“ Kreise, vielmehr hängt sie zusammen mit vor allem ab 1968 einsetzenden Auseinandersetzungen um gescheiterte Revolutionsversuche, faschistische Entwicklungen und Enttäuschungen. Mehrere linke Denkschulen formierten sich, die sich theoretisch und praktisch von der Arbeiter_innenklasse verabschiedeten. Das ging nicht spurlos an der autonomen Antifa-Bewegung vorbei, die in den 1970er Jahren entstand.

Vielleicht sind offene Fragen und Orientierungsprobleme, in Folge durchaus notwendiger Debatten in den 1970er Jahren, auch ein lange Zeit unterbelichteter Grund für die Entstehung der Antifa-Bewegung. Für eine Antifa-Politik, die sich ausschließlich mit den Nazi-Strukturen vor Ort auseinandersetzt, ist es irrelevant darüber nachzudenken, wie sich die Arbeiter_innenklasse heute zusammensetzt, was die Themen sind, wo die Orte eines Kampfes gegen Ausbeutung und Unterdrückung liegen, wie gesellschaftliche Spaltungslinien überwunden werden können − und wo diese Kämpfe schon längst geführt werden. Stattdessen ziehen sich manche zurück aus den entscheidenden Feldern der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und warnen pauschal vor einem Mob. Radikalität drückt sich dann mitunter im engen Kreis der unverfänglich und widerspruchsfrei scheinenden Anti-Nazi-Arbeit aus.

Es gibt Neonazis und Rassisten, die zugleich Hartz IV beziehen. Es gibt auch Neonazis und Rassisten in Hellersdorf. Wo Neonazis und Rassisten auftauchen, Stimmung machen, Menschen bedrohen oder angreifen, muss sich ihnen in den Weg gestellt werden. Doch in welcher Weise das getan wird, mit wem (potentiell) gemeinsam gearbeitet wird und mit wem nicht, sind bedeutende Fragen. Wer sich am liebsten mit dem „hässlichen Nazi-Proll aus der Unterschicht“ befasst, hat diese Fragen bereits beantwortet.

  „Rocky Meyer“ lebt in Berlin, ist Fan von solidarischen Debatten und hat in unerschütterlicher Weise ein großes Herz für „die“ Antifa. Er dankt nicht nur seinen lieben Genoss_innen und Freund_innen, die über den Text geschaut und ihn kritisiert haben, sondern ebenso herzlich dem Infoblatt für die Bereitschaft, den Diskussionsbeitrag trotz der Zuspitzungen zu drucken.