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Repression gegen Antifas in Nordhessen

Einleitung

Am 16. Juli 1993 fand in Hungen-Inheiden bei Gießen (Nordhessen) ein Konzert statt, das von der antifaschistischen Jugend des Ortes organisiert wurde. Mit dieser Veranstaltung wollten die OrganisatorInnen ein Zeichen gegen den wachsenden Neonazismus und den vorhandenen Rassismus in ihrer Region setzen. In den vergangenen Monaten kam es in dieser Gegend wiederholt zu Angriffen und Anschlägen gegen AusländerInnen und Andersdenkende.

Foto: Cherubino, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Region Hungen als Neonazihochburg

Hungen ist seit Jahren Treffort von Neonazis: Am 16. April 1988 traf sich hier z.B. Michael Kühnen und die FAP zu einem Parteitag mit 80 Teilnehmenden aus ganz Deutschland und Österreich. Am 8. Dezember 1992 durchsuchte die Polizei acht Wohnungen von Neonazis in verschiedenen Hungener Stadtteilen und nahm dabei acht Personen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren fest. Sichergestellt werden unter anderem Waffen und Propagandamaterial der inzwischen verbotenen „Nationalistischen Front“ (NF). Als Rädelsführer der Gruppe gilt ein 19-Jähriger, der bereits Anfang Dezember festgenommen wurde. Er gestand, am 18. November 1992 fünf scharfe Schüsse auf das Hungener Flüchtlingsheim abgefeuert zu haben, wurde aber trotzdem nach wenigen Wochen aus der Haft entlassen. Das verfügte übrigens dasselbe Amtsgericht, das später auch über die Inhaftierung festgenommenen AntifaschistInnen verfügte.

In den Monaten davor wurde bereit eine jüdische Gedenkstätte verwüstet und ein Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim verübt. Überhaupt ist zu bemerken, daß es in der Region Hungen in den letzten Monaten verstärkt zu Neonazi-Aktivitäten gekommen ist - bis hin zum öffentlichen Auftreten einer "Wehrsportgruppe". Ferner fanden in den letzten Jahren in Hungen-Inheiden diverse Treffen von extrem rechten Organisationen statt. Diese konnten sich in der Gaststätte »Zum Hindenburg« versammeln.

Der junge Erwachsene Sascha G. aus Grünberg bezeichnete sich als “Ortsgruppenführer” einer Gruppe von rund einem Dutzend lokaler Neonaziskinheads. Anfang 1993 wurde er wegen eines gewalttätigen Übergriffes auf Flüchtlinge in Atzenhain bei Grünberg verurteilt.

Aus diesem und anderen Gründen war die Veranstaltung in Inheiden vom 16. Juli ein wichtiger und nötiger Schritt in die Richtung antifaschistischer Organisierung und Selbsthilfe couragierter Menschen. Wie wichtig vielen Menschen in dieser Region eine Veranstaltung zu diesem Thema war, lässt sich an der großen Resonanz und der guten Stimmung von 400 BesucherInnen ersehen. Entgegen den Behauptungen der Polizei gingen von dem Konzert keine Provokationen aus.

Bereits im Vorfeld des Konzerts kam es wie befürchtet zu massiven Drohungen der Neonazis, das »Antifa-Konzert« zu überfallen. Aus diesem Grund waren einige der anwesenden KonzertbesucherInnen, für den Fall eines Angriffes, zum Selbstschutz bereit. Im Verlauf des ganzen Abends versuchten Neonazis abreisende KonzertbesucherInnen anzugreifen. Sie benutzten eine Grillfete von SchülerInnen als Treffpunkt und konnten von dort aus ungehindert und bewaffnet losziehen. In einem Fall wurde dabei die beiden stadtbekannten Neonazis Tassilo Sch. und Dirk R., mit Knüppeln bewaffnet, in unmittelbarer Nähe der Halle angetroffen, entwaffnet und vertrieben. Tassilo Sch. aus Hungen-Utphe gehört zu der Gruppe um Markus R. aus Nidda-Ober Widdersheim, die im Zusammenhang mit dem Brandanschlag auf das Hungener Flüchtlingsheim festgenommen wurde.

Die Behauptungen von Polizei und Presse, es habe sich um »unbeteiligte Passanten« gehandelt, ist eine Lüge und dient dazu, die antifaschistische Gegenwehr an diesem Abend zu verleumden. Lange nach Ende der Veranstaltung kam es unerwartet zu einem brutalen Einsatz der Polizei gegen die noch vor der Halle anwesenden KonzertbesucherInnen. Willkürlich wurden zwei Personen festgenommen. Mit gezogenen Pistolen, Schlagstöcken und Reizgas, sowie dem Einsatz eines Diensthundes wurde gegen die Menschenmenge vorgegangen. Nach der Festnahme wurde laut Berichten der Betroffenen ein Festgenommene körperlich misshandelt und dem anderen wurden wichtige Medikamente weggenommen und für längere Zeit verweigert.

Beide Festgenommenen wurden am nächsten Tag dem Haftrichter vorgeführt. Vorwürfe: Schwerer Landfriedensbruch, schwerer gemeinschaftlicher Raub, gefährliche Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Bildung bewaffneter Haufen. Beiden wurde der Kontakt zu ihren AnwältInnen verweigert. Durch gezielte Falschinformationen und Verschleppungstaktik (ein Anwalt wurde über mehrere Stunden durch die Gegend geschickt) wurde verhindert, daß die beiden Rechtsanwälte an der Vorführung beim Haftrichter teilnehmen konnten. Dieser erließ Haftbefehl mit der Begründung, es bestehe »Verdunklungsgefahr«, da die Beiden angeblich Mitglieder einer vom Haftrichter nicht näher beschriebenen »radikalen politischen Gruppe« seien, die bei Freilassung Druck auf die »Zeugen«, sprich die Neonazis, ausüben könne.

Nach elf Tagen wurde der Haftbefehl gegen einen Antifaschisten aufgrund einer Haftbeschwerde aufgehoben und er wurde aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Haftbeschwerde des zweiten Festgenommenen wurde nach 19 Tagen abgewiesen, obwohl der Haftgrund »Verdunklungsgefahr« ebenfalls wegfällt. Schnell wurde ein neuer Haftgrund aus dem Hut gezaubert, der daraufhin auf »Fluchtgefahr aus dem zu erwartenden Strafmaß« und auf »fehlende persönliche Bindungen« lautete. Inzwischen wurde aber auch er auf Kaution entlassen.

Um Beweismaterial gegen die beiden für den Prozeß zu sammeln wurden sechs weitere Durchsuchungen durchgeführt. Mit dieser Methode versucht die Justiz antifaschistischen Widerstand in eine »radikale politische Gruppe« umzukonstruieren, die angeblich unbeteiligte Jugendliche überfällt und beraubt, um anschließend eine Straßenschlacht mit der Polizei zu inszenieren. Dieses Vorgehen sehen lokale AntifaschistInnen als ein Glied einer Kette langjähriger Verfolgung und Kriminalisierung antifaschistischen Widerstandes.