Skip to main content

Was tun? Wie kann ich bei Antisemitismus im eigenen politischen Umfeld reagieren?

Veronika Kracher (Gastbeitrag)
Einleitung

Israelsolidarisch und gleichzeitig queer(feministisch) organisiert zu sein, war in den Wochen nach dem antisemitischen Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 eine Zerreißprobe für Nerven, politische Gruppen und Freundschaften. Viele jüdische und israelsolidarische Menschen fühlen sich gerade enttäuscht und allein gelassen. Wie lässt sich mit Antisemitismus in der eigenen Community umgehen? Ein Kommentar von Veronika Kracher (gekürzter Nachdruck von belltower.news).

Gaza-Parolen-battle

(Symbolbild)

Klar ist die queerfeministische Szene „intersektional“. Natürlich ist sie besorgt um marginalisierte Menschen. Selbstverständlich sind Queerfeminist*innen schnell und vehement dabei, Opfer gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu verteidigen. Außer, es handelt sich um Jüdinnen*Juden. Zahlreiche namhafte Feminist*innen, gerade im internationalen Raum, verteilen in sozialen Medien antiisraelische Inhalte, bis hin zu antisemitischen Verschwörungsnarrativen. Auch, dass große Teile der queerfeministischen Community es am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen, nicht geschafft haben zu benennen, dass die Hamas am 7. Oktober 2023 explizit und bewusst misogyne Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt hat, zeigt, dass das Leid jüdischer FLINTA* für Teile sich queer und feministisch begreifender Gruppen nicht so relevant erscheint.

Diese Blindheit gegenüber Antisemitismus geht regelmäßig mit einer so affekthaften wie verkürzten Palästina-Solidarität einher, die unterfüttert ist mit antisemitischen Ressentiments, israelfeindlicher Desinformation und einem sehr bruchstückhaften Verständnis von Unterdrückung – aber dafür viel Empörung und moralischer Überlegenheit. Diese Diskussionen verlaufen vor allem in digitalen Räumen, da diese in ihrer Struktur überemotionalisierten, affekthaften Debatten und ungerechtfertigten Vorwürfen eher Raum bieten und Desinformationen leichter verbreitet und geteilt werden können.

Dies liegt auch daran, dass Gesellschaftskritik anstatt in einer gemeinsam erarbeiteten und diskutierten historisch-materialistischen Analyse inzwischen viel anhand leicht konsumierbarer und deswegen sehr verkürzter Social Media-Inhalte erfolgt. Zehn Instagram-Kacheln oder ein zweiminütiges TikTok reichen, um sich eine politische Position zu bilden – wer braucht da schon historisches oder sozialpsychologisches Wissen über Israel und Antisemitismus?

Diskussionen? Nein danke!

Die letzten Wochen haben verstärkt gezeigt: Der ohnehin kaum aufgearbeitete Antisemitismus in progressiven Strukturen wird offener als je zuvor zur Schau getragen, sowohl im Internet als auch auf der Straße. Vor allem im digitalen Raum lässt sich dem Hass auf Israel nicht entkommen. Oft ist unklar, ob Aussagen eine Mischung aus Unwissenheit und jener antisemitischen Desinformationspropaganda sind, die gerade sämtliche Social Media-Plattformen überschwemmt, oder der Ausdruck einer tatsächlichen israelfeindlichen Agenda.

Die Grenze zwischen aus Unwissenheit verbreiteter Desinformation und der Relativierung bis Verherrlichung von antisemitischem Terror ist jedoch oft fließend. Die vom iranischen Mullahregime finanzierte Terrorgruppe Hamas, deren Mitglieder über tausend Menschen ermordet haben, die Frauen vergewaltigt und die geschändeten Leichen in Videos zur Schau gestellt haben, um Israel zu demütigen, sind hier keine antisemitische, misogyne Mörderbande mehr, sondern Ausdruck antikolonialistischer Befreiungskämpfe. Eine in vielen identitätspolitischen Diskursen ohnehin präsente „Israelkritik“ wird momentan mit antisemitischen Verschwörungsnarrativen unterfüttert, die das bereits bestehende Ressentiment bestätigen und deshalb auf fruchtbaren Boden fallen.

Israelsolidarische Stimmen beginnen dann zu intervenieren, in der Regel anhand grundlegender politischer Textarbeit: Wieso der Begriff „Apartheid“ eine Relativierung des südafrikanischen Apartheidsregimes ist. Wieso „Genozid“ nicht passt. Warum den Zahlen der Hamas kein Glauben geschenkt werden sollte. Wieso die Bilder, Videos und Info-Slides, die gerade TikTok, Twitter und Instagram überschwemmen, häufig Propaganda ist, die gezielt produziert wurde, um Wut gegen Israel und Mitleid mit Palästinenser*innen zu evozieren – und somit konkret davon ablenken soll, dass die Hamas die Körper der palästinensische Bevölkerung als Schutzschild und für Propagandabilder missbraucht.

Darauf folgt weniger eine dem Thema angemessen nuancierte Diskussion, die Widersprüche aushält, als vehement vorgetragene Vorwürfe. Jedoch erweist es sich oft als erfolglos, diese Anfeindungen als haltlos zu widerlegen, zu erklären, dass die Quellen antisemitische Ressentiments unterfüttern und bestätigen, oder auch nur Ambiguitätstoleranzen zu benennen. Dies liegt daran, dass Diskussionen um den Nahostkonflikt häufig ausgesprochen emotional aufgeladen sind und aus einer moralischen Hoheitsposition heraus geführt werden. Eine sachliche Gegenargumentation ist schwierig. Gegen Bilder und Begriffe wie „Genozid“ und „tote Kinder“, von Propagandakanälen gezielt wegen ihrer emotionalen Wirkmächtigkeit instrumentalisiert, lässt sich nun mal schwer argumentieren. Vorwürfe wie „Du verteidigst Apartheid“ oder „Dir sind tote Kinder egal“ sollen eine Diskussion von Anfang an im Keim ersticken.

Frustration Betroffener

Für nicht-antizionistische, jüdische queere Aktivist*innen ist diese Entwicklung besonders zermürbend. Rosa Jellinek, aktiv bei „Keshet Deutschland“ und bei „OY VEY!“ berichtete Belltower.News, es sei anstrengend und zehrend, Nicht-Betroffenen „erklären zu müssen, warum Israel kein ‘white colonizer project‘ und die Hamas keine Widerstandsorganisation ist“. Generell hätte es schon vor dem 7. Oktober in intersektionalen queerfeministischen Räumen Ausschlussmechanismen gegeben, die Jüdinnen*Juden Sichtbarkeit und Teilhabe verwehrt hätten.

Da in intersektionalen, queerfeministischen Gruppen häufig Antisemitismus und Rassismus gegeneinander ausgespielt würden – quasi: Wer Israel verteidigt, unterstützt automatisch Rassismus – sei besonders für BPoC, die sich gegen israelbezogenen Antisemitismus einsetzen, eine belastende Situation. Es wird also eine Unvereinbarkeit zwischen der Unterstützung von Israel und Antirassismus/nichtweißer migrantischer Herkunft aufgemacht. Dies suggeriert, dass Aktivismus gegen israelbezogenen Antisemitismus und der Kampf gegen Rassismus nicht vereinbar seien.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass momentan sowohl von bürgerlicher, als auch rechtsantideutscher Seite der Nahost-Konflikt genutzt wird, um den eigenen rassistischen Ressentiments freie Bahn zu lassen und Menschen mit arabisch-muslimischen Hintergrund und der gesamten palästinensischen Zivilbevölkerung automatisch Judenhass zu attestieren.

Der Kampf gegen Antisemitismus und der Kampf gegen Rassismus sollten nie gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Gerade in Zeiten, in denen Deutsche ihren eigenen Antisemitismus auf Migrant*innen externalisieren, von „importierten Antisemitismus“ sprechen, und eine vermeintliche Israelsolidarität nutzen, um rassistische Abschiebediskurse zu befeuern, ist eine deutliche Positionierung gegen Rassismus unverzichtbar. Diese beiden Kämpfe gegeneinander auszuspielen nutzt letztendlich nur reaktionären Kräften: Islamistischen Strukturen, Rechtspopulist*innen und Neonazis.

Leid anerkennen, Antisemitismus bekämpfen

Die aktuelle politische Lage ist überfordernd und schrecklich – was von antisemitischen Akteur*innen gezielt ausgenutzt wird. Denn in politischen Krisenzeiten suchen Menschen nach Halt und Sicherheit, und dieser wird häufiger in einfachen Antworten gefunden als in einer intensiven Auseinandersetzung mit politischer Theorie und Sozialpsychologie – auch, weil letzteres verlangt, die eigenen internalisierten Ressentiments zu hinterfragen.

Gerade bei im virtuellen Raum geführten Diskussionen ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass diese bei den aggressiven Akteur*innen selten direkt Früchte tragen. Wer in regelmäßigen Abständen israelfeindliche Propaganda teilt, will auch nicht überzeugt werden. Dies führt auch dazu, dass sachliche Argumente die intendierte Empfänger*in nicht erreichen.

Vor allem für Jüdinnen*Juden sind diese Gespräche zusätzlich belastend, da es um die Verteidigung der eigenen Existenz geht. Jellinek appelliert an Solidarität: „Es braucht vor allem Menschen, die nicht von Antisemitismus betroffen sind, die gerade in der aktuellen Zeit die Diskussionen führen, für die viele Jüdinnen*Juden zur Zeit keine Kraft haben.“ Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass diese Diskussionen vor allem für die stillen Mitlesenden geführt werden: um Desinformationen nicht unerwidert stehen zu lassen, um Menschen, die sich noch nicht adäquat mit dem Thema auskennen, nicht den Desinformationen auszuliefern, und vor allem um von Antisemitismus Betroffenen Solidarität zu vermitteln.

Viele proisraelische Aktivist*innen haben sich inzwischen in separate Räume und Gruppen zurückgezogen. Sie sind zu müde, die immer gleichen Diskussionen immer wieder führen zu müssen, immer wieder die gleichen Vorwürfe zu ertragen – und somit keinen Raum mehr für tatsächliche politische Organisation gegen Antisemitismus zu haben. Diese Neugestaltung ist zwar anstrengend, aber die letzten Wochen haben gezeigt: gerade in den eigenen, progressiven Strukturen ist der Kampf gegen Antisemitismus zwingend notwendig – schlicht aus Solidarität mit Jüdinnen*Juden.