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Relativer Rechtsruck in der Schweiz

Björn Resener (Gastbeitrag)
Einleitung

Die Schweiz zeigt „ihr hässliches Gesicht“ titelte das deutsche Nachrichtenmagazin Focus am 22. Oktober 2023. Auf Spiegel Online war von einem „Rechtsruck“ zu lesen. Hintergrund waren die Ergebnisse der eidgenössischen Nationalrats- und Ständeratswahlen. Deren Interpretation war auch in der Schweiz zunächst einhellig: Die große Gewinnerin sei die „Schweizerische Volkspartei“ (SVP).

SVP Plakat

Plakate der SVP (Partei) während der Volksabstimmung zur Ausländer- und Asylpolitik 2010 in St. Gallen, Schweiz

Konkret stimmten landesweit fast 28 Prozent (+2,3 Prozent) für die SVP im Nationalrat. Die Rechtspopulist:innen gewannen damit in der großen Kammer neun Sitze dazu und sind nun mit 62 Parlamentarier:innen im Nationalrat vertreten. Die „Lega dei Ticinesi“ verteidigte ihren Sitz und die christlich-fundamentalistische „Eidgenössisch-Demokratische Union“ (EDU) gewann ein zweites Mandat dazu. Zudem eroberte die immigrationsfeindliche „Mouvement citoyens genevois“ (MCG) – das ging in der deutschsprachigen Medienlandschaft nahezu unter – neu zwei Sitze im nationalen Parlament. Alle Vertreter der rechten Kleinstparteien werden sich der SVP-Fraktion anschließen.

Der Wahlkampf der „Schweizerischen Volkspartei“ konzentrierte sich voll und ganz auf das Thema Migration. Dabei formulierten die Medien- und Kommunikationsprofis der SVP mit „Keine 10-Millionen-Schweiz“ sowie mit „Es kommen zu viele und es kommen die Falschen“ zwei zentrale Botschaften. Diese konnten problemlos mit tagesaktuellen Meldungen über Gewalttäter mit Migrationshintergrund und dem Vorwurf eines von „Mitte-Links“ zu verantwortenden „Asyl-Chaos“ verwoben werden. Die Erzählung verfing und trug die Partei nicht zum ersten Mal zu einem Wahlerfolg.

Wahlkampf mit Neonazis

Auch wegen Rassendiskriminierung verurteilte Neonazis der „Jungen Tat“ (JT) halfen – bezahlt aus den Wahlkampfbudgets – eifrig bei der Verbreitung der rassistischen Propaganda mit. So kam wenige Wochen vor der Wahl ans Licht, dass Tobias L. den X-Account (vormals Twitter) der mittlerweile zurückgetretenen Winterthurer SVP-Präsidentin Maria Wegelin betreute. Er ist Sprecher der „Jungen Tat“ und eng vernetzt mit Gesinnungsgenoss:innen in Deutschland und Österreich. Im Sommer 2023 kämpfte er in Wien bei einem Kampfsport-Event der „Identitären Bewegung“ (IB). Mehrfach beteiligte er sich in der Vergangenheit an gewalttätigen Übergriffen auf Anders­denkende. Auf seinem eigenen X-Account ruft er immer wieder dazu auf, sich für solche „Notwehr“ Situationen zu bewaffnen.

Manuel C. – Gründer und führender Kopf der „Jungen Tat“ – war ebenfalls im SVP-Wahlkampf eingespannt. Er produzierte diverse Wahlkampfvideos der SVP-Nationalratskandidatin Wegelin. Aber er designte auch das Plakat der "Jungen SVP Thurgau" zu den Nationalratswahlen. Darüber hinaus ist er seit Januar 2023 Mitglied ebendieser Sektion. Weniger als drei Jahre zuvor machte Manuel C. noch Schlagzeilen, als er von der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) exmatrikuliert wurde. Gemeinsam mit Tobias L. und anderen hatte er am Geburtstag Adolf Hitlers eine Online-Vorlesung mit antisemitischen Parolen gestört. Bei ihm und weiteren JT-Mitgliedern fand die Polizei nicht registrierte Sturmgewehre und Pistolen.

Inzwischen ist die „Junge Tat“ bemüht, das militante Neonazi-Image loszuwerden. Die Gruppe versucht sich als Schweizer Ableger der „Identitären Bewegung“ zu positionieren und somit Anschluss an bürgerliche Kreise zu gewinnen. Es werden zwar weiterhin Kontakte zu Neonazis im Ausland gepflegt. Aber die offene Verherrlichung des Nationalsozialismus wird mittlerweile vermieden.

Der Kurswechsel zahlt sich auf der lokalen Ebene bereits aus. An einigen Orten dienen sich die „Junge Tat“ und die SVP wechselseitig als Stichwortgeber: Im Oktober 2022 störte die Gruppierung eine queere Veranstaltung im Tanzhaus Zürich. Kurz darauf reichte die SVP im Zürcher Gemeinderat ein Postulat ein, das die Absetzung dieser Veranstaltungsreihe verlangte. In Aarau positionierte sich die kantonale SVP Ende April per Medienmitteilung gegen die Unterbringung von Geflüchteten in Windisch. Wenige Tage später marschierten 20 Vermummte der „Jungen Tat“ vor dem kantonalen Regierungsgebäude auf und zündeten Pyrotechnik, um auf ihre Weise gegen die Unterbringung zu protestieren.

Wahlkampf mit Volksinitiativen

Um sich die Aufmerksamkeit von Medien und Öffentlichkeit zu sichern – und bestimmte Themen und Positionen politisch zu besetzen – reicht die SVP auch immer wieder Volksinitiativen ein. Anfang Juli 2023 lancierte die Partei unter dem Slogan „Keine 10-Millionen-Schweiz“ ihre sogenannte „Nachhaltigkeits-Initiative“. Sie fordert konkrete Maßnahmen, um die Einwanderung drastisch zu reduzieren, beziehungsweise gänzlich zu stoppen. Die Unterschriftensammlung fiel genau in die Wahlkampfzeit, was wegen ihrer mobilisierenden Wirkung und der Schwerpunktsetzung sicher kein Zufall war.

Auch auf der lokalen Ebene nutzen SVP-Exponent:innen dieses Mittel, um die im Wahlkampf benötigte Aufmerksamkeit zu erhalten. So initiierte die Zürcher SVP-Kantonsrätin Susanne Brunner die „Tschüss Genderstern!“ Initiative und reichte sie – pünktlich zum Wahlkampf-Auftakt – in der Stadt Zürich ein. Ziel der Initiative ist es, der Stadtverwaltung eine geschlechtsneutrale Sprache zu untersagen. Anschließend buhlte sie mit „Gender-Wahn stoppen!“ Plakaten um die Stimmen der Stadtbewohner:innen. Genützt hat es ihr freilich nichts. In den großen Städten bekommen die SVP und ihre Kandidierenden kaum einen Fuß auf den Boden.

Inszenierung als Protestpartei

Außerhalb der urbanen Zentren sind sie umso mächtiger! In vielen ländlichen Gebieten verfügt die SVP über eine regelrechte Vormachtstellung. Im Wahlkampf wurden ihre Kandidat:innen aber nicht nur vom Bauernverband, sondern auch von allen Arbeitgeber-Verbänden, der Bankiervereinigung, dem Hauseigentümerverband, der „Vereinigung Schweizer Automobil-Importeure“ und dem neoliberalen Think Tank „economiesuisse“ unterstützt.

Ihre Wirtschaftsnähe kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Liberalen von der FDP in neun Kantonen Listenverbindungen mit der SVP eingegangen sind. Diese sorgen im komplizierten Schweizer Wahlsystem dafür, dass überschüssige Stimmen beider Parteien zusammengezählt werden und so – unter Umständen – noch ein weiteres Mandat für eine der beiden Parteien herausspringt. Die SVP ist ein etablierter Partner im bürgerlichen Mitte-Rechts-Block, der in fast allen Kantonen und auch in den eidgenössischen Räten Mehrheiten organisieren kann.

Umso erstaunlicher ist, dass die SVP es immer wieder schafft, sich selbst aus der Verantwortung für die von ihr kritisierten Zustände zu ziehen. Sie inszeniert sich als Protestpartei, obwohl sie seit Jahrzehnten selbst Regierungspartei ist. Die Eigenarten der Schweizer Politik machen es möglich, denn in der Alpenrepublik werden – in den Gemeinden, Kantonen und auch beim Bund – alle großen Parteien in die Regierungsbildung einbezogen.

Sonderfall Schweiz

Die SVP stellt deshalb in der Landesregierung seit 2015 zwei von insgesamt neun Bundesrät:innen. Eigentlich war sie sogar seit 2003 mit diesem Schlüssel in die Schweizer Regierung eingebunden. Doch 2005 spaltete sich ein Teil der Schweizerischen Volkspartei ab, der den zunehmend rassistischen Kurs der Partei nicht mehr mittragen wollte. Im Zuge dessen wechselten die vormalige SVP-Bundesrätin und ihr männlicher SVP-Kollege zur abgelösten BDP und blieben noch Jahre lang in der Landesregierung. Denn eine weitere Eigenart des Schweizer Systems ist, dass deren Mitglieder so gut wie nie abgewählt werden.

Das bedeutet auch, dass die Wahlen für die beiden eidgenössischen Kammern so gut wie keinen Einfluss auf die Regierungsbildung haben. Erst bei drastischen Wählerwanderungen, die sich zudem über Jahre verfestigen müssen, kommt eine Änderung der „Zauberformel“ genannten Zusammensetzung der Landesregierung in Frage.

Diese Besonderheiten lassen auch vermuten, warum sich in der Schweiz nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten an den eidgenössischen Wahlen beteiligt. Bei den Wahlen am 22. Oktober waren es nur 46.6 Prozent! Außerdem können als problematisch erachtete Gesetze vier Mal im Jahr mit einem Referendum bekämpft werden. Der Stellenwert der Abstimmungstermine für wichtige Referenden und Volksabstimmungen ist für die Schweizer:innen deutlich höher.

Die eigentümliche Regierungsbildung in der Schweiz erklärt auch, warum sowohl linke als auch rechte Parteien weniger gemäßigt auftreten, als etwa in Deutschland. In Koalitionsdemokratien tendieren Parteien politisch zur Mitte, sobald sie groß genug und Willens sind, sich an einer Regierungskoalition zu beteiligen. In der Schweiz ist das schlichtweg unnötig. Allerdings sorgt das parlamentarische Wahlverfahren dafür, dass eher gemäßigte Kandidat:innen die Polparteien in der Landesregierung vertreten. 

Wahlsiegerin aber…

Die neue Zusammensetzung des Parlaments wird also nicht zu einer neuen Regierung führen. Zudem relativieren die Ergebnisse der Mitte November 2023 stattgefundenen Stichwahlen zur zweiten eidgenössischen Kammer – dem Ständerat – die Einschätzung eines „Rechtsrucks“: In der kleinen Kammer verlor die SVP letztlich zwei von acht Mandaten, die ihr nahestehende FDP verlor ebenfalls einen Sitz.

In naher Zukunft wird sich die SVP nicht mit ihrer ausländerfeindlichen Agenda durchsetzen können. Schweizer Unternehmen brauchen die Arbeitskräfte aus dem Ausland und die Partei sägt nicht ernsthaft an dem Ast, auf dem sie sitzt. Allenfalls in der Asylpolitik könnte es Verschärfungen geben, sofern es der SVP gelingt, auch in der Mitte Verbündete zu finden. Die gestärkte Mitte-Rechts-Mehrheit im Nationalrat wird aber in den kommenden vier Jahren noch intensiver daran arbeiten, die staatlichen Sozial- und Vorsorgeleistungen abzubauen. Ob sie damit durchkommen, hängt von der Mobilisierungsfähigkeit der Linken bei den entsprechenden Referenden ab.