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Politischer Schiffbruch – Sterbe­begleitung an den EU-Außengrenzen

Nora Neumann (Gastbeitrag)
Einleitung

Vor der Küste Griechenlands sinkt am 14. Juni 2023 ein Schiff mit bis zu 750 Geflüchteten, lediglich 104 Menschen werden gerettet. Sowohl Frontex als auch die griechische Küstenwache (HCG: Hellenic Coastguard) beobachteten den völlig überladenen Fischkutter über mindestens zwölf Stunden. Laut Überlebenden versuchte die HCG mehrmals, das Schiff in einem sogenannten „Pushback“ Richtung Italien wegzuschleppen, wobei das Schiff letztlich kenterte. Die HCG behauptet, wiederholte Angebote zu helfen, seien abgelehnt worden. Jetzt soll Europol bei den Ermittlungen helfen. Allerdings nicht dazu, wie es zum Unglück kam, sondern wer die verantwortlichen Schlepper sind.

Graffito: Alan Kurdi
(Foto: Plenz; CC BY-SA 3.0)

(Symbolbild)

Laut Überlebenden versuchte die HCG mehrmals, das Schiff in einem sogenannten „Pushback“ Richtung Italien wegzuschleppen, wobei das Schiff letztlich kenterte. Die HCG behauptet, wiederholte Angebote zu helfen, seien abgelehnt worden. Jetzt soll Europol bei den Ermittlungen helfen. Allerdings nicht dazu, wie es zum Unglück kam, sondern wer die verantwortlichen Schlepper sind.
2014 wurde die italienische Marineoperation „Mare Nostrum“ zur Rettung in Seenot geratener Geflüchteter beendet. Sie wurde durch die Frontex-Operation „Triton“ abgelöst, welche mit weniger als einem Drittel der Gelder keine Seenotrettung mehr durchführte, sondern in Küstennähe die Grenzen sichern sollte. Seither wird die Seenotrettung Geflüchteter fast ausschließlich von ­Handelsschiffen und privaten Seenotrettungsorganisationen gestemmt. Auf „Triton“ folgte die EU-Operation „Sophia“, welche als Ziel die Bekämpfung von Schleppern hatte und eine „libysche Küstenwache“ (LCG: Libyan Coastguard) aufbauen sollte. Die LCG arbeitet nachweislich mit genau jenen Schleppern zusammen, die bekämpft werden sollen. Da sie jedoch viele Geflüchtete abfängt und hilft, sie in Libyens Folterlager zu bringen, fließen weiter EU-Gelder an die LCG – trotz ihrer brutalen und menschenverachtenden Methoden.
Seit 2015 sind mehr als 25.000 Menschen auf dem Mittelmeer gestorben, oft von Frontex, HCG und LCG beobachtet. Das sind jedes Jahr etwa so viele Opfer, wie am 11. September 2001 in den USA. Während die staatliche Seenotrettung fast vollständig eingestellt wurde, werden private Seenotretter*innen kriminalisiert und ihre Schiffe beschlagnahmt. Gelder fließen nur an Warlords in Libyen oder Autokraten in der Türkei, Marokko und bald auch Tunesien. Dort traf sich „Team Europe“, wie es Ursula von der Leyen nennt, um mit dem tunesischen Autokraten Kais Saied, der Geflüchtete aus dem Süden Afrikas als „Horden“ bezeichnet, einen „Flüchtlings­deal“ wie mit der Türkei zu schließen. Rund eine Milliarde soll für eine „engere Zusammenarbeit“ – also das Aufhalten und Internieren Geflüchteter - fließen.

Und wieder Asylrechtsverschärfung
Zeitgleich reformiert die EU das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Laut Innenministerin Nancy Faeser (SPD) mündeten die Verhandlungen in einem „historischen“ Asylpakt, der eine „neue, solidarische Migrationspolitik“ einläutet.  In typischem EU-Sprech wird hier eine massive Asylrechtsverschärfung und Missachtung der Genfer Konvention als menschlicher Akt verkauft. In sogenannten „Asylzentren“ in Grenznähe soll in Schnellverfahren innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob Geflüchtete Chancen auf Asyl haben. Wenn nicht, sollen sie umgehend abgeschoben werden – auch in „sichere Drittstaaten“ wie etwa Albanien oder Tunesien. Als Blaupause dienen die Lager auf den griechischen Inseln, in denen Geflüchtete monatelang unter unwürdigsten Bedingungen eingepfercht werden.
Das Asyl- und Abschiebeverfahren soll maximal sechs Monate dauern. Maßgeblich ist nicht der Einzelfall, sondern lediglich die statistische „Anerkennungs- bzw. Schutzquote“ von Asylbewerber*innen. Vorerst soll das Verfahren nur bei Geflüchteten aus jenen Ländern greifen, die EU-weit eine durchschnittliche Anerkennungsquote von unter 20 Prozent haben – zukünftig können die Maßgaben für die Lagerhaft allerdings verschärft werden. „Solidarisch“ an dem Pakt ist, dass EU-Staaten Unterstützung beantragen können. Über einen Verteilungsschlüssel werden Geflüchtete dann in andere Länder verteilt. Länder, die sich weigern, Geflüchtete aufzunehmen, sollen Kompensationszahlungen leisten. Dagegen wehren sich Ungarn, Polen, Malta, Bulgarien und die Slowakei.
Aus ganz anderen Gründen schlagen NGOs und Hilfsorganisationen Alarm. Ob sie „Asylzentren“, „Ankerzentren“ oder „Ein- und Ausreisezentren“ genannt werden, täuscht nicht darüber hinweg, dass die EU hier Internierungs- und Isolationslager an den EU-Außengrenzen und in Drittstaaten schaffen will. Hier sollen Menschen an der Einreise und somit der Teilnahme an einem regulären Asylverfahren gehindert werden. Für Geflüchtete in den Grenzlagern soll, wie in Transitzonen an Flughäfen, das Prinzip der „Fiktion der Nichteinreise“ greifen, da sie bereits in einem anderen Staat europäischen Boden betreten haben. Hier ist dann der Einreisestaat für das Asylverfahren zuständig.

Abschiebelager am BER
Auch am Terminal 5 des Berliner Flughafens BER soll ein „integriertes Einreise- und Ausreisezentrum“ entstehen. Bis 2026 soll auf 30.000 Quadratmetern ein „Gewahrsams- und Transitgebäude“ für 120 Inhaftierte gebaut werden sowie ein Rückführungsgebäude zur Abwicklung der Abschiebungen. Bundespolizei und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die zentrale Ausländerbehörde des Landes Brandenburg (ZABH) und Dependenzen des Verwaltungs- und Amtsgerichts sollen ebenfalls einziehen. Diese Bündelung aller Behörden an einem Ort soll die Schnellverfahren effizienter gestalten. Horst Seehofers „Gewahrsamseinrichtungen“ aus seinem „Masterplan Migration“ werden Realität.
Bereits 2018 konkretisieren sich die Pläne für das Abschiebelager am BER – noch unter rot-roter Landesregierung. Um das von der Linken geführte Finanzministerium in Brandenburg zu umgehen, wollte das SPD-geführte Ministerium des Innern und für Kommunales (MIK) „kein eigenes Gebäude errichten, sondern von einem Investor errichten lassen und anmieten.”  Durch diesen Kniff brauchte es keine Abstimmung zwischen den Koalitionspartnern in Brandenburg, die Kosten des Baus tauchen im Landeshaushalt erst mit der ersten Mietzahlung an den Investor auf und das Geld muss nicht beim Finanzministerium beantragt werden. Finanzministerium und Landtag können dadurch den Bau nicht in Frage stellen. 2019 folgte eine schwarz-rot-grüne Koalition. Katrin Lange (SPD), vormals für das Abschiebelager verantwortliche Staatssekretärin im MIK, wurde Finanzministerin, Michael Stübgen (CDU) wurde Innenminister und führte mit Horst Seehofer die Planungen für das Abschiebelager fort.
Das Bauprojekt realisieren soll Jürgen B. Harder, ein wegen Schmiergeldzahlungen zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilter Investor. Sein Name wurde erst 2022 bekannt. Warum gerade ein Vorbestrafter ausgewählt wurde, erklärte Stübgen damit, dass Harder im Besitz der letzten bebaubaren Immobilien sei – jedoch gehörte ihm nur ein Bruchteil der Grundstücke, auf denen das Lager gebaut werden sollte. Harder dürfte mit dem Projekt über 30 Jahre mehr als 100 Millionen Euro verdienen. Die Entscheidung für Harder bleibt schleierhaft, wie vieles an diesem Projekt.

Tricksen, Täuschen, Leugnen
Von Verschleierung verstehen auch Frontex-Beamte eine Menge. Frontex-Chef Hans Leijtens „bedauerte“ zwar öffentlich die vielen Toten vor Griechenlands Küste: „Ich wünschte, ich hätte den Einfluss, das Sterben zu stoppen“.  Genau seine Behörde war und ist aber maßgeblich an griechischen Pushbacks in der Ägäis beteiligt, verschleiert diese und hebt mit mitleidigem Blick die Hände: Leider können wir nichts tun. Griechische Beamt*innen können scheinbar Menschen erschießen, Boote zum kentern bringen und Menschen beim Ertrinken zusehen, ohne bestraft zu werden. EU-weit führt Gewalt gegen Geflüchtete zu Toten, Täter werden nie ermittelt. Die HCG bestreitet, das am 14. Juni 2023 gekenterte Boot abgeschleppt zu haben, obwohl es Fotos davon gibt, welche offensichtlich aus einem Überwachungsvideo stammen. Solche Videoaufnahmen leugnet die HCG, auch vom Frontex-Flugzeug, welches das Schiff entdeckte, gibt es angeblich keine Videoaufnahmen.
In der Ägäis lügen Frontex und die HCG, verstricken sich in Widersprüche, leugnen und verschleiern Beweise. In Brandenburg verschleiern und mauscheln Lokalpolitiker*innen, die Polizei versucht ein Protestcamp gegen das Abschiebelager am BER zu blockieren und schüchtert mit einem massiven Aufgebot von Beamt*innen Teilnehmende ein. Auf großer Bühne leugnen, lügen und verschleiern EU-­Politiker*innen und Technokraten. Die Entscheidung, Menschen auf dem Mittelmeer sterben zu lassen, ist eine politische. EU-Beamt­*innen nennen es „Pull-Effekte“ verhindern, Pro Asyl nennt das Sterben im Mittelmeer passender: „orchestrierte Sterbe­begleitung“.