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Pseudodebatte um Parallelgesellschaften

Nora Neumann (Gastbeitrag)
Einleitung

Ein Gastkommentar zu „Migrantenbanden“ und Neonazinetzwerken in Berlin Neukölln.

Presse-Silvester
(Bild: Screenshot Pressebericht)

(Bild: Screenshot eines Presseberichtes zu Silvester in Berlin Neukölln)

Die erste Silvesternacht in Berlin nach dem Ende der Pandemie verlief erwartungsgemäß chaotisch. Einsatzkräfte von Feuerwehr und Polizei wurden in "Hinterhalte" gelockt, mit Feuerwerkskörpern, Pfefferspray und anderen Gegenständen angegriffen. Berliner*innen wissen schon lange, dass an Silvester an einigen Orten „Krieg“ herrscht. Diesmal waren Fernsehteams vor Ort, um sensationelle Bilder des Chaos einzufangen. Der Aufschrei in Medien und Politik war ebenso vorhersehbar wie scheinheilig. Bevor belastbare Zahlen verfügbar waren, schwadronierten Politiker*innen wie der Immobilienhai Frank Müller-Rosentritt der FDP-Sachsen von „Migrantengangs“ und der „Migrantenjugend“. Berlins Bürgermeister in spe, Kai Wegner, sprach von „männliche(n) Jugendliche(n) mit Migrationshintergrund, die für den Staat und seine Repräsentanten nur Verachtung übrig haben”.

Die Statistik und Zahlen der Polizei sind widersprüchlich, ändern sich im Laufe der Ermittlungen immer wieder. Erste Polizeimeldungen sprechen von 145 vorläufig Festgenommenen an Silvester, wovon 45 die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Den Verhafteten wird unter anderem Landfriedensbruch, Brandstiftung und Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz vorgeworfen. Zudem werden anfangs 38 Personen verdächtigt, Polizei und Feuerwehr angegriffen zu haben, mittlerweile seien 47 mutmaßliche Angreifer identifiziert. Davon sind über die Hälfte Deutsche, die meisten unter 21 Jahre alt. Die CDU mutmaßt schnell, dass die meisten davon einen Migrationshintergrund haben und will deshalb deren Vornamen wissen. „Wir brauchen Fakten, um mit den Problemen mit Parallelgesellschaften, die wir in einzelnen Kiezen haben, umgehen zu können,“ sagt CDU-Fraktionsvize Frank Balzer. „Bestimmte Themen nicht anzusprechen, zu verschweigen oder zu relativieren“ sei ein gescheiterter Ansatz.

Für diese schnelle, auf fragwürdige Zahlen gestützte Vornamen-Abfrage der CDU mitten im Berliner Wahlkampf gab es erwartbaren Gegenwind. Franziska Giffey wirft Wegner vor, Berlin in „gute und schlechte Namen“ aufzuteilen. Die CDU betreibe „Wahlkampf am rechten Rand“ und befeuere einen rassistischen Diskurs, sagen die Grünen. „Wer so zündelt, wer das so reduziert, der braucht keine Brandmauer mehr nach rechts, der betreibt das Geschäft der AfD gleich selbst,“ tweetet Niklas Schrader von der Linken, und erkennt, dass die CDU den Beschuldigten „das Deutschsein“ absprechen will.

Die Vornamen-Abfrage hat die Berliner CDU bei der AfD Saarland geklaut, welche unzufrieden war mit der Anzahl deutscher Tatverdächtiger bei einer Polizeistatistik zu Messerattacken. Die AfD vermutete, wie jetzt auch die CDU, dass der Großteil der Deutschen keine „richtigen Deutschen“ sei. Ergebnis der Abfrage: Der häufigste Name der deutschen Täter war Michael, gefolgt von Daniel und Andreas. Ähnlich lief es bei einer Twitter-Meldung der Berliner Bundespolizei zu Waffenfunden an Berliner S-Bahnhöfen: „Weil uns die Frage nach den #Vornamen der deutschen Staatsangehörigen (leider) sehr oft hier gestellt wurde, hier die Vornamen: Tim Oliver, Andre, Claus-Bernhard”.

Während auf der einen Seite Menschen das Deutschsein abgesprochen wird und Menschengruppen aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft und Kultur einheitlich als gefährlich und kriminell abgestempelt werden, sterben auf der anderen Seite weiterhin Menschen, aufgrund genau dieser Eigenschaften: Hautfarbe, Kulturkreis, Herkunft. Diese Art „Parallelgesellschaft von Polizei und Neonazis“, das Verachten unserer freiheitlich demokratischen Ordnung und des Rechtsstaats, werden jedoch weiterhin – in Balzers Worten – nicht angesprochen, verschwiegen und relativiert.

Exemplarisch dafür ist das milde Urteil gegen den Neuköllner Neonazi Maurice P.. Laut Staatsschutz einer von 30 „rechtsextremen Gefährdern“ in Berlin, mutmaßlicher Anhänger der „Atomwaffen Division“ und „Combat 18“, der einem Jamaikaner mit einem Cuttermesser in den Hals stach. Anstatt ihn, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, wegen versuchten Totschlags zu verurteilen, verhandelte das Gericht lediglich eine gefährliche Körperverletzung und verurteilte ihn, trotz langen Vorstrafenregisters, lediglich zu zwei Jahren und acht Monaten Haft.

Der „Neukölln Komplex“ um die Neonazis Sebastian Thom und Tilo Paulenz ist bis heute nicht aufgeklärt. Viele vermuteten, das Urteil gegen Maurice P. sei milde ausgefallen, da er als Kronzeuge gegen Thom und Paulenz herhalten sollte. Die Ermittlungen wurden teilweise schlampig geführt, es gab zum Teil private Kontakte zwischen den Beschuldigten und LKA-Beamten (Andreas „Pit“ W., laut Berliner Polizei waren keine Disziplinarmaßnahmen erforderlich), zwei Staatsanwälte wurden wegen  befürchteter Nähe zur AfD versetzt, ein Beamter, der als Kontaktperson der Opfer des Neukölln-Komplex eingesetzt war, verprügelte zusammen mit Neonazis einen Afghanen und ein weiterer Beamter, Detlef M., AfD-Mitglied, tauschte sich mit einem der Hauptverdächtigen per Telegram-Gruppe aus und teilte mit Kolleg*innen in einer rechten Chatgruppe rassistische Inhalte. Auch hier folgte ein Freispruch.

Diese Art (extrem) rechte Parallelgesellschaft wird scheinbar von einigen Richter*innen, Staatsanwält*innen und Polizist*innen ignoriert, verharmlost oder gar gedeckt. An der Aufklärung des Terrors einiger bekannter Neonazi-Aktivisten scheinen nicht alle Akteure der Sicherheitsbehörden durchgehend ein ernsthaftes Interesse zu haben.

Ab 2009 kommt es verstärkt zu Angriffen auf alternative Einrichtungen und Parteibüros in Neukölln. 2011 gibt es eine Serie von Brandanschlägen auf alternative und antifaschistische Projekte, Fenster werden eingeworfen, Hauswände mit Drohungen beschmiert. Bei einem Brand in einem hauptsächlich von Menschen aus der Türkei, Bosnien, Bulgarien und Rumänien bewohnten Haus in der Neuköllner Sonnenallee sterben zwei Erwachsene und ein Säugling – Hinweise auf einen „fremdenfeindlichen Hintergrund“ gibt es nicht, sagt die Staatsanwaltschaft. 2012 wird Burak Bektaş in Neukölln erschossen, zwei weitere Menschen werden schwer verletzt. Bis heute gibt es keine Aufklärung der Tat.

Am 25. Januar 2023 brennt ein Haus in Französisch Buchholz, das hauptsächlich von Geflüchteten bewohnt wird. Die Polizei geht sofort von Brandstiftung aus, kann allerdings keinen politischen Hintergrund erkennen, obwohl der Norden Pankows ein bekannter Hotspot von Neonazis ist. Unweit des Hauses befindet sich ein AfD-Parteibüro, in dem regelmäßig rechte Veranstaltungen stattfinden. Als Anfang Februar Yazy Almiah, Mutter von sechs Kindern, aufgrund ihrer Verletzungen stirbt, veröffentlichte die Polizei nicht, wie sonst üblich, eine separate Meldung. Auch die Medien berichteten nur sehr spärlich über den Vorfall. Die Debatte um brutale „Migrantengangs“ scheint so viel wichtiger zu sein, als getötete syrische Mütter.

Nach den sensationellen Bildern der Silvesternacht von einer verfehlten Integrationspolitik zu reden, ist erstmal nur Wahlkampf am rechten Rand, gleichzeitig aber zynisch hinsichtlich der absoluten Vernachlässigung bestimmter sozialer Brennpunkte und dem Einsparen von sozialen Anlaufstellen für jene, die inmitten von häuslicher Gewalt, Armut und Geringschätzung aufwachsen müssen. Statt diejenigen zu unterstützen, die zwischen den Feiernden, die (z.T. rücksichtslos) mit Schreckschusspistolen um sich schießen, das ganze Jahr leben, werden sie in den gleichen Topf geworfen und auch noch dafür verantwortlich gemacht und unter Generalverdacht gestellt.

Wer mit Schikanen der Polizei aufwächst und gleichzeitig das Gefühl haben muss, dass marodierende Neo­nazis immer wieder von eben dieser Polizei „gedeckt“ werden, dürfte wütend sein. Silvester ist ein ähnlicher Ausnahmezustand – ein Großereignis – wie ein Fußballspiel, mit eigener Gruppendynamik und einer Kräfteumkehr, die es gefrusteten und gewaltbereiten Menschen erlaubt, mal so richtig „auf die Kacke zu hauen“. Leidtragende sind nicht nur die Beamt*innen, die an Silvester verletzt wurden, sondern vor allem Menschen, die seit Jahrzehnten in diesen „Hotspots“ ausharren müssen.

Die Pseudodebatte um Integration dient nichts anderem als rassistischen Ressentiments. Der Anteil an Randalierern und Brandstiftern in Neukölln ist statistisch nicht sonderlich hoch – selbst die Neonazis mit eingerechnet. Der Anteil an Menschen, die in prekären Verhältnissen leben und von Medien und Politik entweder missachtet werden oder unter Generalverdacht stehen, ist dagegen deutlich größer.