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Vertuscht und Verschwiegen

Einige AntifaschistInnen aus Frankfurt
Einleitung

Seit über 15 Jahren beschäftigen wir uns mit einem Mordanschlag auf AntifaschistInnen in Frankfurt am Main im Jahr 2000. Ein Artikel („Der Anschlag“) in der Frankfurter Rundschau am 15. Mai 2015 berichtete über diesen Fall. Er war für uns Anlass, im November 2015 unsere Erkenntnisse in einem 20-seitigen Papier öffentlich zu machen. 

Neonazistischer Aufmarsch im fränkischen Wunsiedel 2004. Alexander H. (mit Brille und roter Jacke), ehemaliger Sektionsleiter von Blood & Honour Südhessen. Auf dem Shirt der Person daneben ist „B&H“ und „Thüringen“ zu lesen. Personen von B&H Südhessen unterhielten enge Verbindungen zu B&H in Thüringen und im sächsischen Chemnitz.

Der Mordanschlag im September 2000

In den ersten Septembertagen des Jahres 2000 hatten Unbekannte an der Auspuffanlage eines PKW einer Antifaschistin und eines Antifaschisten zwei Stangen mit metallischem Natrium angebracht. Der Stoff reagiert in Verbindung mit Wasser hochexplosiv1
, die Betroffenen — Bastian, Ulrike (Namen geändert) und ihr wenige Monate altes Kind — hätten bei einer Explosion kaum Überlebenschancen gehabt.

Mindestens 100 Kilometer waren die drei am 3. September 2000 mit den Natri­umstangen an ihrem Auto unterwegs gewe­sen, bis diese entdeckt wurden. Sie hatten Glück im Unglück. Es regnete nicht während ihrer Fahrt, die Straßen waren feucht, aber ohne Pfützen. Ein Magnet am Auspuff deutet darauf hin, dass dort weiteres Material angebracht worden war, das während der Fahrt abgefallen war — möglicherweise ein Gefäß mit Wasser, das, wäre es am heißen Auspuff durchgeschmort, Wasser freigesetzt und die Explosion ausgelöst hätte.

Sehr dürftige polizeiliche Ermittlungen

Alles deutet darauf hin, dass der Anschlag neonazistisch motiviert war und Bastian treffen sollte, einen engagierten Antifaschisten und Mitarbeiter des AStA der Fachhochschule (FH) Frankfurt. Es gibt keine andere Erklärung, die auch nur im geringen Maße plausibel erscheint. Der damals noch linke AStA der FH wurde von den Neonazis als „Antifa“ angefeindet, denn er initiierte und unterstützte öffentlich antifaschistische Arbeit, zum Beispiel die Kampagne „Weg mit dem rechten Sounddreck“, die sich gegen Strukturen des hiesigen „Blood & Honour“-Ablegers richtete.

Dennoch — oder gerade deshalb: Die Ermittlungen des Frankfurter Staatsschutzes zum Mordanschlag waren äußerst dürftig. Obwohl der Polizei zwei Wochen nach dem Anschlag klar war, dass die Natriumstangen bei einer Explosion „das Auto mehrfach zerfetzt“ hätten (Zitat Frankfurter Rundschau), ermittelte sie nur wegen des Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz und nicht wegen eines geplanten Tötungsdeliktes. Das ist absurd. Doch nur so konnten der Ermittlungsaufwand geringer gehalten und die Akten schneller geschlossen werden. Bereits im Januar 2001 — nicht einmal fünf Monate nach dem Anschlag — wurden die Ermittlungen eingestellt.

Die Polizei hatte bis dahin lediglich den Weg der Natriumstangen verfolgt und ging davon aus, dass diese bei einem Industriebetrieb im Taunus entwendet worden waren. Sie befragte einige Mitarbeiter, die einen Zugang zu dem Material hatten, auf ihre Kontakte zur rechten Szene, was diese natürlich verneinten. Dann versandete dieser Ermittlungsansatz. Jedoch konnten wir in späteren Jahren rekonstruieren, dass gleich mehrere Mitarbeiter in ihrer Vergangenheit offensichtlich Verbindungen zu militanten Neonazis hatten.

Nach unseren Erkenntnissen wurde folgenden Fragen gar nicht nachgegangen: Welche Neonazistrukturen könnten für diesen Anschlag verantwortlich sein? Wer hatte die Motivation und das Konzept, um diesen Anschlag durchzuführen? Und wer hatte zugleich einen „Zugang“ zu den Betroffenen?

Im Abschlussgespräch vor Einstellung der Ermittlungen gab der Ermittlungsführer des Frankfurter Staatsschutzes gegenüber Bastian, Ulrike und ihrem Anwalt zu verstehen, dass es keine Neonazistrukturen im Frankfurter Raum gäbe, denen ein derartiger Anschlag zuzutrauen sei. Dabei wusste es selbst die Polizei zu diesem Zeitpunkt besser.

Im Fokus: Blood & Honour und Combat 18 Rhein-Main

Wir wissen nicht, wer Bastian umbringen wollte und fast eine ganze Familie getötet hätte. Doch wir wissen: Es gab zu dieser Zeit im Rhein-Main-Gebiet militante Neonazistrukturen, die Waffen beschafften, paramilitärische Gruppen bildeten, Untergrundkonzepte verfolgten und in entsprechende Netzwerke eingebunden waren. In unserem Fokus standen damals Neonazis der „Blood & Honour“ (B&H) Sektion Südhessen und ihrer Vorfeldtruppe White Unity. Spätestens ab dem Jahr 1999 verfolgten Personen aus diesem Kreis Pläne zur Schaffung einer Terrortruppe nach dem Konzept des „Combat 18“. Initiator dieser Gruppe soll nach Angaben eines ausgestiegenen Neonazis der Sektionsleiter Südhessen von B&H, Alexander H. aus Mühlheim (bei Offenbach), gewesen sein. Ein weiterer Neonazi, der zu dieser Zeit als „B&H-Mann“ wahrgenommen wurde, studierte zum Zeitpunkt des Anschlages an der FH. Über seinen Studiengang Sozialarbeit kannte er etliche Linke an der FH und er hatte jahrelang in einem Projekt der Drogenhilfe mit Angehörigen des AStA der FH zusammengearbeitet. Studierende berichteten, ihn öfter in dem Café gesehen zu haben, das sich im selben Gebäude wie der AStA befand und von dem aus ersichtlich war, wer die Räume des AStA nutzte. Mit Alexander H. aus Mühlheim verbindet ihn seit vielen Jahren eine Freundschaft. So waren die beiden im Jahr 2006 gemeinsam am Rande der extrem rechten „Ulrichsberg-Feier“ im österreichischen Klagenfurt unterwegs und in eine Auseinandersetzung mit AntifaschistInnen verwickelt.

Ein neonazistischer Überfall mit Fragezeichen

Ein weiteres Beispiel für die unzureichenden Ermittlungen bietet der Überfall von mehreren Neonazis auf die Vorbereitungen der „Rosa-Luxemburg-Tage“ am 1. Juni 2000 auf dem Campus der Frankfurter Universität. Die Angreifer bedrohten Anwesende, randalierten und verspritzten Buttersäure. Mehrere Krankenwagen rückten an, um Atemwegsverletzungen der Angegriffenen zu behandeln. Interessant ist: Vor(!) dem Angriff hatte die Polizei in der Nähe der Uni eine Gruppe von acht Neonazis kontrolliert, auf die die Täterbeschreibungen zutrafen. Sechs von ihnen zählten zu White Unity, unter den Kontrollierten war auch Alexander H. aus Mühlheim. Wer konkret den Überfall begangen hatte, wurde nie ermittelt bzw. zur Anklage gebracht.

Der Überfall floss nicht in die Überlegungen der Beamten ein, die sich nur drei Monate später in den Ermittlungen zum Mordanschlag auf Bastian, Ulrike und ihr Kind hätten fragen müssen, welche Personen und Strukturen für militante Angriffe auf Linke in Frankfurt in Frage kommen. Was verleitete den Ermittlungsführer des Staatsschutzes in Frankfurt, dessen Abteilung parallel zum Mordanschlag und zum Überfall auf dem Uni-Campus ermittelte, zur Aussage gegenüber Bastian und Ulrike, dass es keine Neonazistrukturen im Frankfurter Raum gäbe, denen ein derartiger Anschlag zuzutrauen sei? Kann ein leitender Staatsschutzbeamter tatsächlich so beschränkt sein?

Verschweigen und Vertuschen hat Kontinuität in Hessen

Mit Pannen, Fehleinschätzungen und handwerklichem Versagen lässt sich das Ermittlungsdesaster nicht hinreichend erklären. Geklärt werden muss unter anderem die Frage, ob es bei den Ermittlungen Quellen und V-Leute zu schützen galt. Darauf deuten die Geschehnisse vor und nach dem Überfall auf dem Uni-Campus am 1. Juni 2000 hin und auch eingestellte Ermittlungen gegen eine „Wehrsportgruppe“, die um 2003 aktiv war und der Frankfurter Neonazis angehörten.

Die Ermittlungen des Frankfurter Staatsschutzes stehen in der Kontinuität des Verschweigens und Vertuschens der hessischen Landesregierung, die stets darauf verweist, dass das Bundesland in den bundesweiten Statistiken über „rechtsextremistische Straftaten“ am unteren Ende zu finden sei. Im derzeit in Wiesbaden laufenden Untersuchungsausschuss zum Mord des NSU am 6. April 2006 an Halit Yozgat in Kassel überbieten sich die „ExpertInnen“ der Behörden einmal mehr mit Behauptungen, dass es in Hessen in den 2000er Jahren keinen militanten Neonaziuntergrund gegeben habe. Die Erkenntnisse von AntifaschistInnen, die dies widerlegen, erreichen und mobilisieren indes kaum Öffentlichkeit. All die Skandale in den Legislaturperioden der Regierungen von Roland Koch und Volker Bouffier, die ausgesessen und weggewischt wurden und werden, haben selbst bei vielen kritisch denkenden Menschen ein bedenkliches Maß an Ohnmacht und Fatalismus erzeugt. Es gilt, nicht locker zu lassen und diesen Zustand zu überwinden.

(Der Artikel ist eine gekürzte Fassung der 20-seitigen Veröffentlichung „Vertuscht und Verschwiegen. Der neonazistische Mordanschlag auf Linke in Frankfurt im Jahr 2000 und was wir dazu zu berichten haben ...“. Dieser wurde in gedruckter Form im Rhein-Main-Gebiet verbreitet und ist auch über Plattformen wie Indymedia im PDF-Format erhältlich. Für Hinweise, Fragen und weitere Informationen sind wir verschlüsselt unter der Adresse recherche2000 [at] riseup.net erreichbar. Der Schlüssel (0x68A3D767) liegt auf öffentlichen Schlüsselservern, oder wir schicken ihn auf Anfrage.)

  • 1Metallisches Natrium entwickelt in Verbindung mit Wasser tatsächlich eine enorme Explosionskraft. Diese „Natriumstangen“ werden in industriellen Produktionsprozessen verwendet und sind nur unter besonderen Auflagen zu beschaffen.